- Grabbilder des Alten Reiches: Verewigter Alltag
- Grabbilder des Alten Reiches: Verewigter AlltagMuseen altägyptischer Kunst und Kultur sind Museen für Sepulkralkultur. Dass der überwiegende Teil ihrer Bestände aus dem archäologischen Kontext von Gräbern stammt, ist bei Mumien und Mumienmasken, Sarkophagen und Särgen, Kanopen und Uschebtis, Grabstelen und Totenbüchern unmittelbar einsichtig. Aber nicht nur diese direkt auf die Bestattung des Toten bezogenen Objektgruppen, die der Besucher vom Hauch der Friedhöfe umweht erleben mag, gehören in den Bereich des »Hauses der Ewigkeit«, wie der alte Ägypter das Grab nennt. Auch viele der so lebensnah wirkenden Statuen und der unendlich vielfältige Bestand an Gerätschaften des täglichen Lebens, der die kulturgeschichtlichen Abteilungen ägyptischer Museen und Sammlungen so anschaulich und lebendig macht, sind zur Ausstattung von Gräbern geschaffen worden. Ihre Vorbilder aus dem Bereich des Alltags sind, der normalen Abnutzung ausgesetzt, zerstört.Grabkunst sind aber auch all jene Reliefs und Malereien, die in ihrer Themenvielfalt und in ihrer wirklichkeitsnahen Darstellungsweise ein Bilderlexikon der Lebenswirklichkeit Altägyptens zu sein scheinen.Die Tradition der bilderreichen Ausgestaltung der Gräber hat ihre Wurzeln in der Vasenmalerei des 4. vorchristlichen Jahrtausends. Die vorgeschichtlichen bemalten Tongefäße sind ausschließlich Grabbeigaben. Das Gefäß selbst dient als Behälter der Naturalversorgung des Verstorbenen, dessen Lebensraum in den Motiven der Bemalung dargestellt wird. Es ist ein mehrschichtiger Raum, der die Pflanzen- und Tierwelt des Niltals und die Schilderung der Jagd mit kultischen Szenen des Tanzes und der Ausfahrt von Götterbarken verbindet.Die ältesten Grabbilder, auf die verputzten Wände der unterirdischen Kammern von Gräbern aus ungebrannten Lehmziegeln gemalt, sind nahezu völlig zerstört. Die Wandreliefs haben ihren Ursprung in Gräbern der Frühzeit um 3000 v. Chr., zunächst beschränkt auf Steinplatten, die als Grabstelen das Grundmotiv des durch hieroglyphische Namensbeischriften zum Individuum erhobenen Verstorbenen zeigen, der beim Mahle sitzt. Damit ist das Thema angeschlagen, das sich im Lauf einer jahrhundertelangen Entwicklung zu Bilderzyklen mit Hunderten von Einzelszenen ausgeweitet hat. Die funktionale Einbindung dieser grenzenlos erscheinenden Bilderfülle bleibt stets dieselbe: Der Verstorbene bewahrt in Bild und Text seine Individualität über den physischen Tod hinaus, und die vor ihm dargestellten und in hieroglyphischen Opferlisten beschriebenen und quantifizierten Opfer sind sein Lebensunterhalt für die Ewigkeit.Die ältesten Grabstelen sind in den unterirdischen Grabkammern in unmittelbarer Nähe des Bestatteten angebracht. Mit der Entwicklung einer differenzierten oberirdischen Grabarchitektur rücken sie an den funktional wichtigsten Ort des Grabes, an die Scheintür. Diese markiert als Nachahmung einer Tür einen Übergang, durch den der Verstorbene, aus seiner unterirdischen Grabkammer nach oben gestiegen, zwischen Jenseits und Diesseits hin- und hergehen kann. In manchen Gräbern ist diese jederzeit mögliche Präsenz des Verstorbenen recht drastisch dargestellt. Im Grab des Idu in Giseh erscheinen Oberkörper und Kopf des Verstorbenen unmittelbar über dem Fußboden der Kultkammer im unteren Teil der Mittelnische der Scheintür, sodass der Eindruck entsteht, der Tote steige soeben aus der Unterwelt empor. Im weitläufigen Grab des Mereruka in Sakkara tritt der Verstorbene als lebensgroße Statue aus der Nische der Scheintür heraus und zeigt damit eine geradezu schockierende physische Präsenz.Um das Kernmotiv des Verstorbenen, der am Speisetisch die Opfergaben empfängt, entwickelten sich im Lauf des Alten Reiches in direktem inhaltlichen Zusammenhang umfangreiche Bildzyklen. Sie verfolgen den Weg der Opfergaben zurück bis zu deren Herstellung und Ursprung. So wird aus den Broten, die auf dem Speisetisch liegen, eine Motivfolge, die mit Pflügen und Aussaat beginnt, sich fortsetzt mit der Ernte, dem Dreschen und Worfeln des Getreides und schließlich über die Vorratshaltung im Silo zum Mahlen und Backen führt. Den Abschluss bilden - wie in all den anderen Szenenfolgen - die weiblichen und männlichen Opferträger, die auf den speisenden Grabherrn zugehen.Häufig belegt und ausführlich dargestellt sind Themen der Viehzucht. Rinder, Schafe und Ziegen werden zunächst auf der Weide, beim Zug durch eine Furt, beim Melken und Mästen im Stall gezeigt, bevor sie zum Schlächter geführt werden. Dessen Handwerk lässt sich in allen Einzelheiten beobachten; die Ausrufe seiner Gesellen beim Fesseln der Rinder, beim Schächten und beim Zerlegen der Opfertiere sind wie Sprechblasen in Hieroglyphen an den oberen Bildrand gesetzt - gewissermaßen die Tonspur zur Bildaufzeichnung.Die ganze Tierwelt des antiken Niltals wird in diesen Reliefs vorgeführt, denn zu den Haus- und Nutztieren kommen die Tiere der Wüste, die Vögel und Fische, die vom Grabherrn oder für ihn gejagt werden. In diese Jagdszenen setzt der Künstler neben dem jagbaren Wild - Wildstier, Gazelle, Antilope, Strauß, Löwe, Gepard - auch die Wüstenspringmaus und den Hasen, den Igel und sogar das Stachelschwein. In das Dickicht des Nilufers, durch das der leichte Papyrusnachen des Fischers fährt, sind Frösche und Heuschrecken gesetzt, und hoch in den Papyrusstängeln klettert der Ichneumon. Inmitten der Vielfalt der vor dem Vogelfänger aufflatternden Vögel finden sich Libellen und Schmetterlinge.Der Zoologe, der sich mit diesen Reliefbildern beschäftigt, bestätigt die Präzision der Naturbeobachtung und die Genauigkeit der Wiedergabe, die es ihm erlauben, die Tierwelt des pharaonischen Ägypten zu rekonstruieren, an Funden von Tierknochen aus archäologischem Kontext zu verifizieren und somit einen für die historische Zoologie einzigartig dichten Befund zu erstellen. Das gilt in gleicher Weise für die Botanik.Von unschätzbarem Wert für die Kulturgeschichte Altägyptens sind die Grabbilder mit Handwerkerszenen. Bei der Holzverarbeitung sind Boots- und Schiffsbauer, Schreiner und Zimmerleute zu beobachten; die Technik der Bearbeitung von Stein wird bei der Herstellung von Steingefäßen und von Statuen vorgeführt; selbst die Werkstatt des Goldschmieds ist zu sehen.Für das richtige Verständnis dieser Bilder und für ihre sachgerechte Auswertung ist es notwendig, die besonderen Regeln zu kennen, die der ägyptische Künstler anwendet, wenn er Reliefs und Malereien schafft. Es geht dabei um das Grundproblem der Wiedergabe einer dreidimensionalen Realität in der Zweidimensionalität, der Flächigkeit der Wand. Um in der Fläche Räumlichkeit zu erzeugen, bedient sich der Künstler einer Darstellungsweise, die in der modernen Malerei und Grafik als Kubismus bezeichnet wird. Verschiedene charakteristische, funktional wichtige Ansichtsseiten des darzustellenden körperhaften Motivs werden auf eine gemeinsame Fläche projiziert.Am Beispiel der Darstellung des menschlichen Körpers lässt sich dieses Verfahren anschaulich erläutern. Im altägyptischen Wandbild erscheinen Füße, Beine und Unterkörper in Profilansicht, der Oberkörper in Vorderansicht, desgleichen das Auge, das jedoch in eine Profilansicht des Kopfes gesetzt wird. Dieser mehrfache Wechsel der Ansichtsseite führt zu einem Bild, das vollständiger ist als eine fotografische Abbildung, da es Nichtsichtbares vor Augen führt. Der Eindruck räumlicher Tiefe entsteht insbesondere durch angedeutete Schrägansichten; der Nabel, der eigentlich an der Profillinie des Bauches sitzen müsste, ist ebenso sichtbar wie das Philtrum, die Falte zwischen Nasenscheidewand und Mitte der Oberlippe.Eine weitere Besonderheit der altägyptischen Wandbilder verdient Erwähnung. Wenn nicht, wie zum Beispiel beiderseits einer Tür, Gründe der Achsensymmetrie dafür sprechen, Figuren nach einer gemeinsamen Mitte auszurichten, wählt der ägyptische Künstler die Blickrichtung nach rechts. Diese Orientierung der Bilder entspricht der bevorzugten Schriftrichtung altägyptischer Texte, deren Hieroglypyhenzeichen, wenn nicht besondere Gründe vorliegen, ebenfalls nach rechts blicken. Bei der nach rechts blickenden Figur ergibt sich in Schrittstellung zwangsläufig, dass das linke Bein vorgesetzt ist, da nur auf diese Weise der Oberkörper in seiner repräsentativen Vorderansicht gezeigt werden kann. In der dreidimensionalen Skulptur ist das vorgesetzte linke Bein die Standardhaltung der schreitenden Figur. Der Grund ist einfach: Der generellen Dominanz der rechten Hand entspricht physiologisch bedingt die Dominanz des linken Fußes im organischen Ablauf der Schreitbewegung.So dient dieses ganze künstlerische Regelwerk letztlich der Darstellung von Bewegung, von Veränderung in Raum und Zeit. Die Grabbilder des Alten Reiches sind nicht eine Retrospektive auf das Leben, eine Schilderung der Vergangenheit, sondern die Darstellung einer idealtypischen Zukunft, in der sich ein räumlich und zeitlich unbefristetes Leben entfalten kann. Diese Zukunftsvision orientiert sich in der Ikonographie des Alten Reiches an der Lebenswirklichkeit der Gegenwart. Im Gegensatz zu religiösen Vorstellungen, die erst nach Ende des Alten Reiches in den Vordergrund treten werden, greifen diese Bilder nicht in jenseitige Räume aus, entwerfen nicht eine Jenseitstopographie, die sich der sinnlichen Wahrnehmbarkeit entzieht.Auffallend ist aber auch, dass die individuelle Existenz des Verstorbenen, seine Biographie, das Einmalige seiner Lebenszeit, in den Bildern und Texten der Gräber keine wesentliche Rolle spielt. Weder herausragende historische Ereignisse, die in die Lebenszeit eines Grabherrn gefallen sein müssen, finden Erwähnung noch außergewöhnliche biographische Details. Die Individualisierung beschränkt sich auf Namen und Titelfolgen des Verstorbenen und seiner Familie. Er tritt aus den Zufälligkeiten des Erdenlebens über in eine geschichtslose Ewigkeit.Prof. Dr. Dietrich Wildung
Universal-Lexikon. 2012.